Zum Mythos Überforderung von Michael Winterhoff

Wie ich zu dem Buch kam

Das Buch Mythos Überforderung von Michael Winterhoff ist 2015 erschienen und ich bin durch sein erstes Buch (Warum unsere Kinder Tyrannen werden Oder: Die Abschaffung der Kindheit, 2008) darauf Aufmerksam geworden. Der Autor ist vom Hauptberuf Kinder- und Jugendpsychiater und seine Bücher beschäftigen sich mit seiner Sicht auf die Entwicklung von Kindern und besonders der Psyche.

Hintergrund aus dem Buch: Warum unsere Kinder Tyrannen werden

In seinem ersten Buch beschreibt er seine Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche und auch Erwachsenen bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten abhanden gekommen sind bzw. fehlen. Bei seiner Beschreibung hangelt er sich an eigenen und im zugetragenen Fallbeispielen entlang. Dadurch finde ich seine Beschreibung sehr greifbar und bildhaft vorstellbar, was es mir leicht macht seinen Gedanken zu folgen und diese nachzuvollziehen.

Da geht es z. B. um Jugendliche die ohne jedes Unrechtsbewusstsein, am helligsten Tage in einem Baumarkt einbrechen wollen, Kinder die ihre Eltern völlig unter Kontrolle haben, die in der Schule auffallen uvm.

Fürsorge

Mir schallt aber immer wieder aus vielen Richtungen entgegen, dass sich um die Kinder gekümmert wird. Hier gibt es neue Kindergartenkonzepte mit extra viel Förderung und Freiheit, dort dürfen Schüler völlig frei und nach eigener Motivation lernen. Eltern werden geschult und entwickeln sich für ihre Kinder weiter.

Ist es also nur eine Frage der elterlichen Ressourcen, damit aus einem Kind etwas wird?

Weitere Fragen: Was soll aus unseren Kinder überhaupt werden?

Oder: Wer kümmert sich um mich wenn ich mal alt bin?

Müssen die Kinder dazu einer Erwerbsarbeit nachgehen und in der Gesellschaft sich zurecht finden? Also z. B. Verabredungen / Termine einhalten können, sich an Gesetze und Regeln halten können und z. B. einem Kunden freundlich begegnen?

Wissen wir wie oder was ein Kind dazu braucht, um genau das zu entwickeln oder gar was es fürs Leben in der Zukunft braucht?

Reicht es, wenn wir das Überleben unserer Kinder sichern und sie sonst sich selbst überlassen? Brauchen Kinder irgendwelche Strukturen, um die Struktur der Gesellschaft begreifen zu lernen?

Was von der Struktur ist wertvoll und was behindert die Weiterentwicklung?

Wie lernt ein Kind z. B. Verbindlichkeit? Ich finde das einen wichtigen Wert im Zusammenleben mit anderen Menschen, denn ich warte ungern ungewisse Zeit auf Ergebnisse oder Treffen.



Brauchen wir also nur einen Führerschein für Eltern und alles wird gut?

Nach Michael Winterhoffs Beobachtung sind gerade Kinder aus guten Elternhäusern, in denen sich Eltern um ihre Kinder kümmern und dafür sorge tragen, dass die Kinder es gut haben (im extremen Fall sogenannte Helikoptereltern) betroffen in seiner Praxis.

Beziehungslosigkeit

Auch ist es ja so, dass wir unsere Kinder quasi ab Geburt schon in Fremde, zumeist staatliche, Hände geben und so als Eltern kaum die ersten Beziehungserfahrungen zu den eigenen Kindern aufbauen können.

Manche wollen es vielleicht auch gar nicht. So erlebe ich während ich diese Zeilen formuliere einen fünfjährigen Jungen und seine Mutter (nehme ich an), die kaum in Beziehung zueinander sind. Sie spielt oder schreibt mit dem Smartphone und hört dabei Musik. Der Junge ist derweil sich selbst überlassen, außer er wird laut und auffällig, dann bekommt er zumindest Aufmerksamkeit.

Diese fehlende Beziehung sehe ich als eine Kernursache an. Der Autor geht dabei sogar noch weiter und diagnostiziert eine Beziehungsstörung. Die seiner Beobachtung nach bereits gesellschaftliche Auswirkungen annimmt. Zu sehen sind die bei Berichten über auffällige Kinder und aber besonders auch bei der Aussage von Unternehmen, dass viele Schulabgänger nicht mehr die Ausbildungsreife erlangt haben. Also das diese unreifen Menschen keine Termine einhalten können, unfreundlich zu anderen Menschen sind und kaum belastbar sind.

Ich habe mich ja immer gefragt, ob der Maßstab so hoch ist, dass der von jungen Menschen gar nicht erfüllt werden kann. Aber scheinbar wollen wir als Gesellschaft unsere Kinder gar nicht mehr in den hergebrachten Strukturen sehen, denn sonnst würden wir sie ja entsprechend Ausbilden glaube ich (siehe auch: Fragen: Was soll aus unseren Kindern überhaupt werden?).

Die Ursache

der Beziehungs- und damit auch Entwicklungsstörung sieht er in der Überfordeerung der Erwachsenen und genau darum geht es in dem Buch Mythos Überforderung.

Das Buch Mythos Überforderung

Im Vorspann schreibt Michael Winterhoff von der täglichen Hetze, dem ständigen Multitasking und wie dann das Ergebnis bei Menschen aussieht, die ihre Akkus erschöpft haben, kurz Burn-Out und andere Diagnosen.

Genau das ist es, was er den Überforderungs-Mythos nennt. Nicht weil es die Einflüsse von außen nicht gibt, sondern weil der Umgang damit, dass Entscheiden ist, also eigentlich überfordern wir uns selbst.

Beobachtung

In den ersten Kapiteln schreibt er über seine Beobachtung, wie sich die Gesellschaft zu ändern scheint bzw. seit seinem ersten Buch verändert hat. Dabei malt er für mich ein sehr düsteres Bild, in dem die Welt von Narzisten beherrscht wird, über unwesentliches gestritten wird und die Kinder ins Getriebe des Konsums geraten.

Details

Im Mittelteil beschreibt er pro Kapitel einen Teilaspekt und gibt so sehr viel Details zu den am Anfang geschaffenen Überblick seiner Beobachtung. In den Detailkapiteln gibt er auch immer wieder Hinweise zur Lösung des Detailsympthoms. So verstehe ich ihn im fünften Kapitel, so dass die Beschäftigung mit den eigenen Rollen für Orientierung sorgen kann. Dadurch komm ich also wieder in die Lage Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Wenn ich z. B. meine Rolle im Arbeitsleben klar habe, dann kann ich leichter entscheiden, ob etwas jetzt in meine Zuständigkeit fällt oder nicht.

Darauf aufbauend schreibt er im siebten Kapitel auf Seite 136

… dies ist das Geheimnis verantwortlichen Handelns – nicht zu sagen: Ich musste so handeln. Sondern: Ich wollte es so.

Dies ist für mich auch ein Hinweis, wie ich für mich schauen kann, dass ich eben verantwortlich Handle: Will ich das wirklich tun, auch wenn ich dafür Gegenwind ernte oder schiebe ich dann die Verantwortung nach außen auf jemanden oder etwas anderes?

So gibt es im Buch viele Beschreibungen von Interaktionen, an denen der Autor seine Beobachtungen verdeutlicht. Auch gibt er, gerade in der zweiten Hälfte des Buches, immer wieder Hinweise darauf, was das eigentliche Problem seiner Meinung nach ist und was zur Lösung notwendig wäre.

Ausblick und Fazit

Zum Ende des Buches wird für mich das gesellschaftliche Bild wieder freundlicher. Wenn jeder von uns durch eigene bewusste Entwicklung zu einer gesunden Entwicklung der Psyche von Menschen beiträgt und ganz Mensch wird, dann kann es auch friedlicher werden. Das Buch Mythos Überforderung war für mich dabei eine wertvolle Lektüre, da es mir hier und da einen Spiegel vorgehalten hat und so eben meiner Weiterentwicklung gedient hat.

Mir hat das Buch eine neue Bewusstheit vermittelt woher es kommen kann, dass manche Begegnungen für mich schwierig sind. Schon alleine diese Bewusstheit lässt mich anders in Begegnungen gehen. Somit auf in die nächste Begegnung und ein Stückchen weiter daran Wachsen und Heilen.


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